Ich bin Antje… und trockene Alkoholikerin
Einleitung|
Zu dem Begriff „Alkoholiker“ haben viele von uns ganz genaue Vorstellungen. Alkoholikerin, das passt nicht mit dem Bild einer jungen, hübschen, intelligenten Frau zusammen. In unserer Vorstellung.
Doch Alkoholismus hat nicht nur ein Gesicht. Er hat viele.
Alkoholsucht ist eine schwere Krankheit. Sie kommt meist schleichend und fällt kaum oder erst sehr spät auf. Die Volksdroge Alkohol ist schließlich frei verkäuftlich- also „harmlos“, denken viele. Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Rund 1,8 Millionen Menschen in Deutschland sind alkoholabhängig. 74.000 Todesfälle jährlich, sind darauf zurückzuführen. (Quelle: Aktionswoche-Alkohol.de)
2,6 Millionen Kinder und Jugendliche wachsen in Familien mit mindestens einem alkoholkranken Elternteil auf. Damit ist jedes sechste Kind in Deutschland betroffen (Quelle: kenn-dein-limit.de)
Doch das sind nur Zahlen. Antje gibt diesen Zahlen ein Gesicht.
Der heutige Gastbeitrag von Antje kommt von Herzen. Er ist ehrlich und ungeschönt und dafür hat sie meinen größten Respekt. Heute ist Antje Mama eines zweieinhalb Jahre alten Sohnes. Ihr Sohn Oskar weiß noch nichts über die Vergangenheit seiner Mama. Darüber, dass sie trockene Alkoholikerin ist. Aber irgendwann wird sie ihm davon erzählen. Wenn er alt genug ist, zu vestehen. Und heute erzählt sie es uns.
Antjes Geschichte
Rückblick
Flashbacks. Immer wieder Flashbacks.
Leipzig. Ich komme langsam auf dem Kachelfußboden eines Discounters zu mir, um mich herum nur Blut und über mir Menschengesichter, die ich nicht kenne. Ein Rettungssanitäter sagt irgendwas zu mir, bevor ich mich auf seinen Füßen übergebe. Das Ende eines Entzugskrampfes.
Wien. Ich hänge kopfüber bis zur Hüfte aus einem Fenster im 7. Stock, während mein damaliger Freund mich nur noch an meiner Gürtelschnalle festhält und brüllt, dass ich ihm endlich zuhören solle. Das Ende eines Streits unter Betrunkenen.
Dresden. Sie sitzt mir gegenüber in der Küche ihrer Eltern, meine damals beste Freundin. Strahlt. Sagt mir, dass sie zum zweiten Mal schwanger ist. Von ihrem Freund aus Frankreich. Ein Groschen fällt in meinem Kopf. So laut, geräuschvoll und ohrenbetäubend, dass ich es nicht überhöre. Dass ich es endlich nicht mehr überhören kann. Sie lebt das Leben, das ich mir wünsche. Immer gewünscht habe. Und sie kann es – denn sie ist gesund. Ich nicht.
Es ist das Jahr 2013. Und das Ende meiner Selbstzerstörung. Meinem Kampf gegen mich selbst.
Ich will leben. Und ich werde leben. Meine Name ist Antje. Und ich bin trockene Alkoholikerin.
Heute
Dass ich hier sitze und diese Zeilen schreiben kann, verdanke ich allein diesem Umstand.
Trocken. Ich bin trocken. Ich bin gesund. Ich bin wieder Frau, Tochter, Schwester, Freundin und Mutter. Vor allem Mutter.
Wenn ich heute gefragt werde, wie sowas denn passieren könne, diese Sache da mit dem Alkohol, fällt es mir manchmal schwer, Verständnis für derlei Unwissenheit zu haben.
Alkohol ist immerhin die einzig frei zugängliche Droge und mittlerweile derart gesellschaftsfähig geworden, dass man damit eigentlich nur noch auffällt, wenn man sie nicht konsumiert.
Trotzdem ist mir bewusst, dass gesunde Menschen einen völlig anderen Blick auf dieses Thema haben, es weder als tagtägliche Bedrohung noch existenzielles Problem empfinden. Und darum versuche ich auch, immer wieder irgendwo den Anfang zu meiner Geschichte zu finden.
Meine Geschichte
Ich war schon immer „gut dabei“, habe im jugendlichen Alter alle Feiern und Anlässe mitgenommen. Irgendwie wusste ich noch nie, wann das Maß richtig voll und wann es einfach genug war. Bis heute bin ich ein Mensch, der in Extremen lebt. Es gäbe für mich, was meine Emotionen und mein Handeln anbelangt, nur selten auch andere Farben als schwarz und weiß, wenn ich mich nicht immer wieder daran erinnern würde, dass das Leben mit allen anderen Farben viel bunter und aufregender ist.
Genauso ist das mit meiner Sicht auf mich selbst, ich bin entweder sehr zufrieden mit mir oder wahnsinnig kritisch.
Und es gab eine Zeit in meinem Leben, wo niemand da war, der mir sagte, dass es okay ist, auch einfach mal nicht okay zu sein.
Der Partner
2007 zog ich für meine große Liebe nach Hamburg. Wir Zwei alleine in der großen Stadt. Es fing als Abenteuer an, wir waren jung, verdienten gut, konnten feiern, wie und wann wir wollten. Trotzdem schlich sich der Alltag schnell ein, die Streitereien wurden mehr, und wir waren viel zu jung, als dass wir es hätten besser wissen können.
Ich kompensierte meinen Frust schon da gerne mit ein paar Gläsern Wein nach der Arbeit, und nach der Trennung kompensierte ich bald alleine in einer 1-Raum-Wohnung irgendwo in Hamburg-Barmbek weiter.
Fernab von alten Freunden und der Familie. Es konnte also niemand mehr zusehen und den Zeigefinger heben.
Zu den „paar Gläsern Wein“ gesellten sich bald eine sehr ungesunde Beziehung zu einem älteren Mann, finanzielle Sorgen, der Frust über mich selbst und der ewig währende gefährliche Kreislauf, der sich daraus ergab. Die Probleme formierten sich gegen mich und ergaben bald eine Mauer, die ich mit meinem Gedankenchaos einfach nicht durchbrechen konnte.
Wein und Sekt halfen mir dabei, mich locker zu machen, nachzudenken oder eben nicht. Glaubte ich jedenfalls.
Dass sich bald alles nur noch um Alkohol drehte und darum, dass auch wirklich genug davon im Haus war, ignorierte und verneinte ich vor mir selbst.Er wurde mein ständiger Begleiter, morgens nach dem Aufstehen, unterwegs zur Arbeit in der Handtasche, selbst dort am Schreibtisch hatte ich ihn zur Hand.
Das Umfeld
Das ist der Punkt in meiner Geschichte, wo oft die Frage gestellt wird: Und es hat wirklich nie jemand etwas gemerkt?
Vielleicht. Vielleicht nicht. Darauf angesprochen wurde ich jedenfalls nie, und bis heute weiß ich nicht, ob wirklich niemand etwas ahnte, oder Viele mit der Situation nicht umgehen konnten oder wollten. Ob niemand vielleicht den Mut hatte, mir auf den Kopf zu zusagen, dass mit mir etwas nicht stimmt. Wie denn auch? Ich hätte es sowieso geleugnet. Und wir Suchtkranken werden wahnsinnig kreativ, wenn es darum geht, genau diese Sucht vor uns und anderen zu leugnen!
Natürlich wusste wenigstens ein Mensch, dass etwas nicht stimmte. Und das war ich.
Wollte ich etwas dagegen tun? Ganz ehrlich, nein. Ich hatte die Kraft verloren. Den Mut. Den Willen.
2011 hatte ich dann mittlerweile den Wrack-Status erreicht. Wirklich. Ich aß nicht mehr, sondern trank nur noch. Mein Körper sendete ein Alarmsignal nach dem anderen, ich quoll auf und bekam gratis eine Schuppenflechte quer über meinen Körper verteilt dazu. Arbeit schaffte ich so irgendwie noch, ein Sozialleben gab es nicht mehr und die Rechnungen stapelten sich ungeöffnet von mir in einer Ecke meiner Minibutze.
Jetzt fiel es auf. Einem Anderen außer mir. Der mir mit einem Anruf in meine alte Heimat wahrscheinlich das Leben rette. Dem Anruf, der an meine Eltern ging und sie veranlasste, sich sofort ins Auto zu mir zu setzen.
Flashback
Auch hier wieder ein Flashback. Es klopft, und klopft, und klopft. Ist das an meiner Tür? Ja, das ist an meiner Tür. Ich höre Stimmen. Und eine davon ist die meiner Mama. Intuitiv weiß ich, warum sie da sind. Sie sind da, weil ich wieder auf der Couch liege, völlig betrunken. Ich versuche, die leeren Flaschen noch schnell zu verstecken, auch wenn ich weiß, dass das jetzt nicht mehr nötig ist. Ich habe Panik, Angst, sogar Wut. Wut, dass man in mein Leben eingreifen will. Dass man mir helfen will, wo ich doch gar keine Hilfe brauche.
Ich habe alles im Griff, ganz bestimmt.
Ich hatte gar nichts mehr im Griff. Und darum stieg ich in das Auto.
Bis zu diesem Moment mit meiner Freundin im Jahr 2013 waren es noch zwei lange Jahre, die immer wieder geprägt waren von Verdrängung, Verleumdnung und Aufgeben. Ich machte zwei dreiwöchige körperliche Entzüge, um doch wieder rückfällig zu werden, fand in der alten Heimat (nach Hamburg sollte ich nie wieder zurückkehren) neue Arbeit und verlor sie direkt wieder, begann eine stationäre Suchttherapie und brach sie doch nur wieder ab, um einem Mann zu folgen, der genauso kaputt, krank und lebensfremd geworden war wie ich.
Veränderung
Doch dann kam dieses 2013. Und wurde mein Schicksalsjahr.
Die zweite Therapie über vier Monate brach ich nicht ab. Auch wenn sie mich brach. Zunächst. Einer der Therapeuten sagte mal zu mir: „Erst wenn es richtig weh tut, hilft es auch.“ Und es tat weh.
Sie zwangen mich, mich selbst zu sehen. Nur mich. Die Fehler. Die Irrtümer. Dieses verkorste Selbstbild, das ich von mir selbst hatte. Meine Zweifel.
Meine Ängste aus Kindheitstagen. Meinen Wunsch nach Anerkennung. Mein Streben nach Perfektion, das mich kaputt gemacht hatte. Aber sie zwangen mich auch, noch genauer hinzusehen. Dorthin, wo ich war. Antje. Ich, mit all meiner Lebendigkeit. Meinem Humor. Meiner Quierligkeit. Meiner Intelligenz und meinem Wissensdurst. Meiner Empathie für Andere – und für mich.
Es war alles in mir drin. Das Gute und das Böse, das Schwarz und das Weiß. Und man half mir, daraus ein Grau zu machen. Und aus diesem Grau später Farben. Bunte Farben, die wieder Lust auf Mehr machten. Lust auf Leben.
Wieder Leben
Seitdem sind über fünf Jahre vergangen. Fünf lange Jahre, die ich nun trocken bin. Es ist nicht mehr dieser alltägliche Kampf wie zu Beginn, als man nicht wusste, wie stabil und belastbar man nach all dieser Zeit in der therapeutischen Glaskuppel überhaupt ist. Und ich werde nie vergessen, dass ich in meinem Therapierunden einer Frau gegenüber saß, die nach 12 Jahren einen Rückfall erlebt hatte.
Ich bin nicht geheilt, ich bin nicht „suchtfrei“. Ich bin trocken. Nicht mehr und nicht weniger.
Wachsam bleibe ich. Mir ist es in Mark und Bein übergangen, was ich kann und was nicht. Was ich mir zutraue. Vielleicht kann man das mit einem Allergiker vergleichen, der bei Kontakt mit einer bestimmten Frucht einen Schock befürchten muss. Werde ich nach- und fahrlässig, riskiere ich nicht nur einen Rückfall, sondern schlichtweg mein Leben.
Ich möchte dieser Krankheit nicht mehr Raum in meinen Leben geben, als unbedingt notwendig. Aber sie hat ihren festen Platz.
Wenn ich feiern gehe, trinke ich nichts, was meine Freunde nicht vorher gekostet haben. Ich darf keine Medikamente mit Alkohol einnehmen, im Essen ist dieser genauso tabu und natürlich darf ich nicht müde werden, ein angebotenes Glas Wein abzulehnen.
Am Anfang habe ich immer noch eine allgemeingültige Erklärung wie Unwohlsein oder Autofahrer-Status (ich fahre seit 8 Jahre nicht mehr) hinterhergeschoben,
Heute lehne ich einmal höflich ab, auch ein zweites Mal. Beim dritten Mal gibt es volle Breitseite Wahrheit: Nein danke, ich bin trockene Alkoholikerin.
Meistens verdirbt das dem Anderen den Abend, nicht mir. Ich habe mich dazu entschlossen, nicht inflationär, aber doch offen mit meiner Geschichte umzugehen. Und das schon vor langer Zeit. Zum einen schafft mir das ein Netz aus Mitwissern, die ein Auge auf mich haben, zum anderen ist es keine Schade, eine lebensgefährliche Sucht erfolgreich bekämpft zu haben. Jedenfalls fürs Erste und hoffentlich für immer.
Selbstvorwürfe
Heute hadere ich auch nicht mehr allzu oft mit meiner Krankheit. Und wenn, dann nur damit, dass sie selbstverschuldet ist. Dass es in meinem Leben einen Zeitpunkt gab, wo alles andere wichtiger war, als auf mich Acht zu geben. Auf meinen Körper, meine Seele, meine Gesundheit.
So viele Menschen erkranken schwer und unheilbar, fragen nach dem Warum und bekommen keine Antwort. Ich habe meine Antwort nach dem Warum: weil ich mir selbst nicht mehr wert war.
Ist das fair? Ich weiß es nicht.
Mein Sohn
Das Leben hat aber Gott sei Dank manchmal andere Pläne als man selbst. So sollte ich diese zweite Chance bekommen, egal wie undankbar ich dafür anfangs war. Wie blind für die vielen schönen Seiten des Lebens.
Und was für schöne Seiten es hat. Die Schönste? 2016 wurde ich Mama. Mama von einem gesunden, quirligen, wundervollen Sohn. Oskar ist meistens einfach nur dieses Kind, das ich wahnsinnig liebe, das ich irgendwie vernünftig groß kriegen will. Das meinen Alltag bestimmt und mein Dasein bereichert. Das mich zu Höchstleistungen an- und in den Wahnsinn treibt. Das mich lachen und weinen lässt.
Aber manchmal ist er auch dieser lebende Beweis dafür, dass es zweite Chancen gibt. Dass wir alle sie verdient haben und es an uns liegt, sie zu ergreifen. Wie viele von uns sind stark und mutig und gut – und zweifeln trotzdem daran?
Ich möchte nicht mehr zweifeln. Jedenfalls nicht mehr so sehr, dass ich vergesse, wer ich bin.
Ich bin Antje. Mit meinen Fehlern und Schwächen. Aber auch meinen Stärken. Meinen vielen Stärken.
Mein Sohn soll mit dem Wissen aufwachsen, dass es okay ist, hinzufallen. Aber man muss aufstehen. Es ist okay, Fehler zu machen. Sie lassen sich korrigieren. Es ist okay, selbst nicht mehr weiter zu wissen.
Dann gibt es Hilfe. Überall. Wir müssen nur hinsehen. Und den Mut haben, zu sagen: Hier schaffe ich es gerade nicht mehr alleine.
Danke für deine Offenheit liebe Antje. Danke für deinen Mut. Denn nur, wenn mehr Menschen über solche Tabus sprechen, leiden Betroffene nicht mehr alleine. Hinter verschlossenen Türen.
Wenn du mehr über Antje erfahren möchtest, findest du sie hier, auf Instagram.
Ich würde mich freuen, wenn du auch weiterhin hier auf meinem Blog vorbeischaust. Mich findest du ausßerdem ebenfalls bei Instagram. Ich freue mich über Anregungen und Feedback.
Hilfe
Brauchst Du Hilfe? Kennst Du jemanden, der betroffen sein könnte und möchtest gerne weitere Informationen?
Bei www.kenn-dein-limit.de (BZgA) gibt es Checklisten, Informationen und Ansprechpartner.
3 Kommentare
Julia
DANKE
Frau Kakao
Danke DIR! Für‘s Zeit nehmen und lesen.
irene
Liebe Antje ich habe deine Zeilen gelesen.Auch ich bin trockene Alkoholiker in seit 6 Jahren trocke .Lange habe ich gebraucht um zu begreifen
das es so nicht weiter geht.Durch Stress und Panickattacken habe ich mich mit Alkohohl betäubt.Auch Entgiftung und Langzeittherapie hätten nichts gebracht.Durch eine gute Ärztin und mit Hilfe meiner Familie und natürlich habe ich es selber geschafft dem Teufel Alkohol die Stirn zu bieten.Bin jetzt 64 Jahre und hoffe ich kann meine Rente weiter genießen. Schreib mal dir und deinen Sohn alles Gute